Christliches und magisches Weltbild im Widerstreit
Während der Phase ihrer Ausbreitung in der Spätantike und im frühen Mittelalter war die christliche Kirche allenthalben mit anderen Glaubensformen konfrontiert. Diese waren teilweise – wie die altägyptischen Religion – hochentwickelt und Jahrtausende alt, teilweise – wie der Mithraskult – jung und von hoher Dynamik. In Europa trafen die christlichen Missionare zunächst auf die Glaubensvorstellungen der keltischen, germanischen und slawischen Völker, die neben einigen Hauptgottheiten eine Vielzahl von Neben- und Lokalgöttern kannten, daneben Kulte um heilige Plätze, Bäume, Quellen, Steine etc. Von der Antike (Dok. 1) bis hinein ins hohe Mittelalter (Dok. 38) besitzten wir Zeugnisse von solchen vorchristlichen religiösen Verhältnissen auf dem Boden des heutigen Deutschland.
Der Umgang mit diesen nichtchristlichen Vorstellungen war für die Missionare des frühen Christentums nicht gerade einfach. Mit seinem universalen Heilsanspruch waren konkurrierende Kulte unvereinbar, besagte doch das Erste Gebot des christlichen Gottes: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir! – ein Gebot, das im Hinblick auf das Thema Zauberei eine überragende Rolle spielen sollte: Augustinus ordnete jede Form der Zauberei, Wahrsagerei oder des Aberglaubens unter die Idolatrie ein (Dok. 25), und alle katholischen Theologen nach ihm, aber auch die großen Reformatoren wie Martin Luther (Dok. 61) oder Jean Calvin behandelten die Zauberei in ihren Dekalog-Kommentaren unter dem Ersten Gebot.
Im Frühmittelalter stellte sich den Missionaren eine geradezu herkulische Aufgabe, sollten sie doch nicht nur Anhänger gewinnen, sondern alle anderen Kulte und Religionen ersetzen und auslöschen. Daß dies nicht selten mit brachialer Gewalt geschah, ist bekannt und wird auch an einigen der hier präsentierten Quellen in Bezug auf den Moselraum (Dok. 26), auf die Sachsen (Dok. 32–34) und die Elbslawen (Dok. 38) verdeutlicht. Daß man eine neue Religion nicht nur mit Gewalt einführen kann, sondern durch geschmeidige Akkulturation und Angebote attraktiv machen muß, wird ebenfalls deutlich. Die Missionsinstruktionen des Papstes Gregor I. (Dok. 27) zeigen dies deutlich. Daß die christliche Religion bei aller Bekämpfung heidnischen Aberglaubens in vielfältiger Form selbst mit magischen Vorstellungen durchsetzt worden ist, wird von jüngsten Untersuchungen bestätigt, die nachweisen, daß gewisse Formen der Magie bewußt von der frühmittelalterlichen Kirche adaptiert worden sind, um den schwierigen Akkulturationsprozeß der heidnischen Bevölkerung zu erleichtern1.
Der Glaube an die Möglichkeit zauberischer Einflußnahme stellte sozusagen ein Gegenstück zum modernen Fortschrittsglauben dar, der ebenfalls trotz zahlreicher Rückschläge eine optimistische Erwartungshaltung der Menschen ermöglichte. Magie schien alle Möglichkeiten zu eröffnen: Feinde konnten magisch besiegt werden, Fesseln konnten gelöst werden, Freia und Wodan dienten dem Heilzauber wie später christliche Heilige (Dok. 3). Die Merseburger Zaubersprüche finden ihre direkte Kontrafaktur im Trierer Pferdesegen, wo der spätgermanische Hauptgott Wodan durch Christus ersetzt wird (Dok. 4).
Gemeinsam war allen germanischen Völkern der Glaube an die Kraft der Zauberei, also auch der schädlichen Zauberei. Diesen Glauben teilten sie mit den benachbarten keltischen und slawischen Völkern, und selbst in der Hochkultur des Römischen Reiches mußte Schadenzauber gesetzlich unter Strafe gestellt werden, wenn auch manche Intellektuelle zur Zeit der Republik an der Macht jeglicher Zauberei zweifelten. Alle germanischen Volksrechte kennen Bestimmungen gegen Zauberei, beispielsweise die Lex Baiuvariorum, welche eine Form der zauberischen Ernteschädigung (aranscarti) unter Strafe stellte (Dok. 29). Obwohl durch die Christianisierung des frühen Mittelalters die alten Werte in Frage gestellt worden waren, hielten Teile der Bevölkerung daran fest. Im Jahr 1090 wurden bei Freising gegen den Willen der Kirche drei Wettermacherinnen am Isarstrand verbrannt, und vieles an diesem – allerdings damals noch illegalen – Vorgang erinnert an spätere Hexenprozesse. Nur die inneren Wirren um die Sedisvakanz des Freisinger Bischofsstuhls machten die Verbrennung der vermeintlichen Zauberinnen möglich. In dem komplizierten Verfahren spiegeln sich die verbreiteten Ängste vor Zauberei wider. Die Kirche akzeptierte die Hinrichtungen keineswegs, sondern bezeichnete die Frauen als »Märtyrerinnen« (Dok. 5).
Volksglaubensvorstellungen waren auch nach der Christianisierung sehr mächtig. Die Legenda aurea, berichtet im 13. Jahrhundert vom Nachtmahl für die guten Frauen (Dok. 7), und für den gleichen Brauch finden wir zahlreiche Belege noch im 15. (Dok. 11) und in Resten auch in unserem Jahrhundert. An bestimmten Tagen werden Schalen mit Essen und Getränk nachts an bestimmten Plätzen, meist in der Stube, aufgestellt: ein »heidnisches« Opfer an die guten Geister, die Holden, die Perchten, die Alfen. Voll von heidnischen Vorstellungen sind auch die Götterlieder der älteren Edda, die ins 13. Jahrhundert datiert wird, aber ältere, vorchristliche Vorstellungen überliefert. In ›Der Seherin Weissagung‹ hören wir von magischen Bäumen und Quellen, von weisen Frauen, von Zauber, Wahrsagung und Losdeutung, vom Hauptgott Odin (der im Süden Wodan hieß), von den durch die Luft reitenden Walküren, vom Unhold Loki, von der Kraft der Erde und vom Zauber der Ähre. In ›Odins Runenlied‹ finden wir Zauberworte in Stabreim, lesen von Asen-Göttern, Alfen, Zwergen und Riesen, die bis ins 17. Jahrhundert hinein im Volksglauben herumspukten. Im ›Zaubergedicht‹ schließlich sind Anwendungsmöglichkeiten der Zauberei aufgezählt, die sich über Jahrhunderte hinweg wenig verändert haben. Wie die Merseburger Zaubersprüche enthält es auch den Heil-, Binde- und Lösezauber, außerdem die heidnischen Götter der Asen und der Alfen sowie die »Zaunreiterinnen«. Diese »Unholden« werden hinweggezaubert, und auch sonst sollte die Magie »nütz den Erdensöhnen« sein. Jahrhunderte nach der Christianisierung waren die heidnisch-zauberischen Mächte immer noch präsent. Im 13. Jahrhundert polemisierte »Der Stricker«, ein süddeutscher Intellektueller, gegen die Vorstellung von Unholden und bezeugte eben dadurch ihre Allgegenwart (Dok. 6). Er stand mit seiner Skepsis auf ebenso verlorenem Posten wie Jahrhunderte später Montaigne (Dok. 217). Zu Ende des 13. Jahrhunderts überliefert uns der Deutschordensritter Hugo von Langenstein in seiner Dichtung ›Martina‹ den oberdeutschen Begriff »Hexe« (Dok. 8).
Auf Anfang des 14. Jahrhunderts wird ein aufschlußreicher deutschsprachiger Nachtsegen gegen die Unholden datiert, dessen genaue geographische Zuordnung unklar ist. Mit einem christlichen Segen werden hier die heidnischen Vorstellungen dämonisiert: Die Nachtfahrt, die Schwarzen und die Weißen (die die guten genannt werden), die zum Blocksberg reiten, die Bilwisse, die Zaunreiter, die Unholden, »Truttan unde Wutan, Wutanes her und alle sine man«, »Alb und elbelin«, »Albes swestir unde vatir«, »Albes mutir, trute und maren«, »Albes kint, ir wihtelin«. All diese heidnischen Götter und Dämonen sollen gebannt werden: »Ich beswere dich, ungehüre ...« (Dok. 9). Ähnliche Vorstellungen finden wir auch ganz im Süden des deutschen Sprachraumes, in einem Gedicht des Südtiroler Richters und Dichters Vintler. Perchten, Trutten, Elben, Schrätel und »Unhollen« lebten im 15. Jahrhundert noch überall in den Vorstellungen der Bevölkerung, wobei Intellektuelle wie Vintler allerdings deutliche, nicht nur religiös motivierte Kritik an diesem Volksglauben üben konnten (Dok. 10).
Eine detaillierte Erläuterung der Verstöße gegen das erste Gebot hält fest: Den »Schrätelen« wird nachts und an bestimmten Tagen Speise und Trank geopfert, Wahrsagerei wird betrieben, Zauberer machen angeblich Wetter und fliegen durch die Lüfte (Dok. 11). Fühlt man sich verzaubert, so besucht man einen Wahrsager oder eine Wahrsagerin, der oder die auch zur Bewältigung des Zauberverdachts innerhalb der magischen Volkskultur rät: »Kunt sie das Wetter machen, so mug und kunt sie's wieder wenden auch.« (Dok. 12, 13, 14, 18).
Ein solches Vertrauen auf Magie und die eigene Kraft war im 16. Jahrhundert noch keineswegs marginal. Selbst führende, wenn auch unorthodoxe Gelehrte wie Paracelsus vertraten im Prinzip die gleiche Ansicht (Dok. 13). Und schon dem Autor des ›Hexenhammers‹ war bekannt, daß die Bevölkerung auch ohne Inquisition mit den vermeintlichen Verhexungen umgehen konnte (Dok. 12). Eben dies erschien ihm jedoch als ein Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub: Anstelle der katholischen Priester fungierten irgendwelche Volksmagier als populäre Heilsvermittler – dies konnte nur eine Machenschaft des Teufels sein.