Germanische Musik
Inhalt:
A. Allgemeines
1. Begriff
2. Quellen
3. Erforschung
B. Mythische Überlieferung
C. Der musikalische Wortschatz
D. Literarische Zeugnisse
E. Klangcharakter und Musikstil
F. Die Instrumente
G. Der Sänger
H. Ausklang
A. Allgemeines
1. Begriff
Als germanische Musik wird die Tonkunst des vom Christentum und von der griech.-röm. Antike nicht beeinflußten Germanentums bezeichnet. Unter »Germ. Musik« versteht man die Musikausübung germanische Stämme der Vor- und Frühgeschichte bis zu ihrer völkischen Aufgliederung: die Goten begannen im 4. Jh. ihr Sonderleben, die Isländer um das Jahr 1000, später noch die Schweden. »Germ. Musik« ist daher kein Epochenbegriff mit mehr oder weniger fester zeitlicher Begrenzung, sondern als Teilgebiet der germanische Altertumskunde lediglich ein Kulturbegriff.
2. Quellen
Für die Erforschung der germanische Musik stehen nur mittelbare Quellenzeugnisse zur Verfügung, die keineswegs eindeutige Aufschlüsse über die klingende Musik selbst, über Tonsystem, Melos und rhythmische Verhältnisse geben. Tondenkmäler sind nicht erhalten, ebensowenig Notendenkmäler. Für den ältesten Zeitabschn. sind die knappen Zeugnisse der Römer unschätzbar. Sie sind zu ergänzen durch die Überreste, die die Vorgeschichtsforschung in immer wachsendem Umfang bietet (Instr.-Funde, Grab- und Felszeichnungen). Diese Hinweise gewinnen aber erst Sinn und Leben in Verbindung mit den germanische Eigenzeugnissen jüngerer Zeiten. Hier kommt dem Norden, insbesondere Island, besondere Bedeutung zu, weil dort germanische Art am längsten die Entwicklung in altem Stil fortgesetzt und selbst tiefe Kulturwandlungen überdauert hat. Ergänzt wird unser Wissen durch die linguistische Erschließung mus. Begriffe aus dem Wortschatz der germanische Gemeinsprache und Rückschlüsse aus lebendiger Volksüberlieferung. Strafverordnungen, kirchl. Verdikte, ahd. Glossen, Heldenlieder und Sagas liefern bei aller Quellenarmut doch genügend brauchbare Zeugnisse. Das daraus zu gewinnende Bild hängt aber vollkommen von der richtigen Bewertung und Ausschöpfung der jeweiligen Quellen ab.
3. Erforschung
Die seit dem 17. Jh. zunächst vereinzelt und zaghaft einsetzende Beschäftigung mit der Germanenmusik (1683) muß dem vorwiss. Stadium der Forschung zugeschrieben werden (Trogil Arnkiel 1639-1712, Paul Hachenberg 1652-1681, Johann Nikolaus Forkel 1749-1818). Erst seit dem Ende des 19. Jh. hat sich dieser Wissenschaftszweig aus der Umklammerung klass. Geschichtsauffassung befreit, die vielfältigen Möglichkeiten auf diesem bis dahin vernachlässigten Gebiet erkannt und eigene Wege eingeschlagen. Oskar Fleischer (1856-1933) darf als Begründer der mus. Germanenforschung gelten, wenngleich er vielfach weit über das Ziel hinausschoß. In zahlreichen Einzelforschungen haben neben und nach ihm Angul Hammerich, Friedrich Behn, H. J. Moser, J. Müller-Blattau, W. Danckert u.a. systematisch und methodisch das Arbeitsfeld abgesteckt.
B. Mythische Überlieferung
Die Anfänge der germanische Musik liegen jenseits der Geschichte, wie viele mit Musik verbundene Vorstellungen aus der Mythologie erweisen. Als Gott der Dichtkunst gilt Odin, der zugleich Kriegerkönig, Richter und Dichter ist, eine für das Germanentum charakteristische Dreieinheit. Odin gibt sein Auge zum Pfand, um die neun Hauptlieder zu erlernen (Völuspa). Unter Lebensgefahr eroberte er dann den Met Odrörir (Geisterreger), der später zum Dichtermet wurde (Havamal). In der Edda heißt es, daß er Lieder kenne, durch die sich die Erde vor ihm öffnete. Das kennzeichnet die Anschauung von der zauberischen Wirkung der Musik, die in der späteren germanische Überlieferung fortdauert. Odins Sohn Heimdall, der Wächter der Himmelsbrücke, besitzt das Gjallarhorn (»das laut tönende)«, dessen Blasen man bis in die fernsten Welten hört und mit dem er nach den Mythen von Ragnarök gellend den Tag der Götterdämmerung verkündet. Die Bedeutung des Gsg. noch in später Zeit zeigt auch, daß Bragi, der bedeutendste Skalde vor Harald Harfagrs Zeit, als Sohn Odins und Gemahl Idunas, der Göttin ewiger Jugend, unter die Götter eingereiht wurde. Auch in den alten Volksmärchen und -sagen finden sich genügend Anhaltspunkte für die zauberhafte Wirkung und hohe Schätzung der Musik.
C. Der musikalische Wortschatz
Die Aufschlüsse, die der Wortschatz gewährt, bilden eine wichtige Quellengattung, da ein Name etwas als vorhanden bezeichnen kann, wo die Sache verloren ist. So erlaubt auch der reiche Wortschatz der germanische Gemeinsprache und ihrer Nachfolgesprachen für alles Hörbare Rückschlüsse auf die besondere Anlage der Germanen für die Musik. Fleischers Hinweis auf diese Erkenntnismöglichkeit ist noch nicht entsprechend berücksichtigt worden. Die meisten Namen für Instr. und andere mus. Begriffe lassen sich nach seinen Feststellungen zwanglos als autochthon nachweisen. Dazu kommt, daß der noch heute auffällige Reichtum an mus. Begriffen größer ist als in vielen anderen Sprachen. Bezeichnungen für Singen, Klingen, Gellen, Blasen, Stimme, Schall, Laut, Lied und Weise gehören zum ursprünglichen Sprachgut. Ebenso auffällig sind die Unterscheidungen zwischen gespielter Melodie (got. laiks, ahd. leich), gesungener Melodie (leod) und einer noch übergeordneten Gesamtbezeichnung (wīsa = Weise) als mus. Fachausdrücke im Althochdeutschen. Aufgabe künftiger Forschungen bleibt es, Fleischers Anregungen aufzugreifen, seine Feststellungen zu sichern und aus dem Wortschatz das gemeinsame mus. Gut der germanische Völker herauszustellen. Wie die mythologische Überlieferung erhellt auch der Wortschatz die magisch-kultische Bindung und zauberhafte Wirkung des Gsg. Der alte Ausdruck für den Vortrag des Zaubers war galan (ursprünglich »singen«, wie noch der Name Nachtigall zeigt); im zweiten Merseburger Zauberspruch bedeutet bigalan »bezaubern, besprechen«. Auch das Wort liodh ist im Nordischen zur Bezeichnung für Zauberspruch und Zauberweise geworden, die aber nach vielfachen Zeugnissen gesungen wurden.