Hallo,
ich habe hier ein Gedicht für euch, das zwar einen traurigen Unterton bereithält, aber gleichzeitig durch seine Interpretationsmöglichkeit ein wenig Raum zum spekulieren lässt. Der Author Hermann Allmers (1821 - 1902) fühlte sich einem aufgeklärtem, undogmatischem Christentum verpflichtet. Von einem Christen lässt sich kaum ein Loblied über Thor erwarten. Ich habe dennoch das Gefühl, dass eine gewisse Sympathie und Verbundenheit zu erkennen ist. Hermann Allmers war sehr an seiner heimatlichen Geschichte und Natur interessiert.
Interessant ist die Frage, woher nun der Blitz am Ende stammt, von dem Bernoles erlegt wird. Ein einer Stelle wird von Thors blauen Blitze gesprochen. Derjenige am Ende ist dagegen rot. Soll damit eine Racheakt des abrahamitischen Gottes angedeutet werden, der ihn zuvor mit der Sehkraft beschenkt hat, oder ist es die Rache Thors, der Bernoles für dessen Taufe bestrafen will. (Oder ist der Blitzeinschlag reiner Zufall, weil Bernolef mit Harfe an einer exponierten Stelle steht, und er als Blitzableiter dient ?
). Der abrahamitische Gott tritt im alten Testament auch gerne als Gewitterwolke auf, um seine Anhänger zu bestrafen, wenn sie Fehler machen. Hermann Allmers war sicherlich kein Verfechter des alten Testaments.
Warum ist Bernolef von dem Gewitter so sehr beeindruckt, dass der darüber das "Wunder" seiner wiedergewonnenen Sehkraft vergisst ? Bernolef macht ansonsten keinen dummen oder amoralischen Eindruck.
In dem Buch, aus dem ich das Gedicht habe, ist anbei ein Bild von Bernolef mit Harfe und einem mächtigen Thor mit Hammer zu sehen, der sich anscheinend zum zuschlagen bereit macht. Nach der Ansicht der Christen gibt keinen Gott namens Thor, also auch keinen Thor, der sich an seinen ehemaligen Anhängern rächen könnte. Und wenn, dann müsste der abrahamitische Gott seine getauften Anhänger doch schützen. Komplizert. 
Bernolef
• 1.
• Bernolef, der alte, der Barden letzter war.
• blind seine Augen beide, hell wie Schnee sein Haar;
• doch immer noch ertönte herrlich sein Harfenklang
• und hell zur alten Harfe und machtvoll sein Gesang.
• Im Friesenland längst alles zum Christengotte schwor,
• nur er sang seine Lieder dem Wodan und dem Thor.
• Kein einz´ger wollt´es hören; ab wandten rings sich all´;
• einsam stand er am Meere und sang in den Wogenschwall.
• Gezogen kam der Bischof, der heilige Mann Ludger,
• im Friesenland zu festen die neue Gotteslehr´.
• Der Bischof sprach zum Barden: “Laß ab vom Heidentum,
• und singe deine Lieder zu Christi Preis und Ruhm!
• schwör ab die alten Götter; die haben dich blind gemacht;
• Christus wird dich erlösen nach langer, banger Nacht!”-
• “Nun wohl denn”, sprach der Alte, “schau wieder ich das Licht,
• sing´ ich zu Christi Preise; sonst glaub´ ich an ihn nicht.”
• Da über ihn Ludgerus inbrünstig betet laut,
• auftun sich seine Augen, daß er die Sonne schaut,
• die Sonne und die Erde -; er sinkt auf seine Knie,
• laut preisend Gott im Himmel und Christus und Marie.
• Er neigt sein Haupt der Taufe, schwört ab das Heidentum
• und singt hinfort zur Harfe zu Christi Preis und Ruhm. -
• 2.
• Am Hünenmal steht Bernolef; die Harfe ruht im Arm;
• still ist´s auf weiter Heide; die Luft ist schwül und warm.
• Wolken kommen gezogen; Donner grollt dumpf und weit;
• vom Meer her tönt die Brandung; dunkel wird die Heid´.
• Stäubend kommt der Sturmwind; stäubend und mit Getos,
• schwarz wälzen sich her die Wolken; laut bricht das Wetter los.
• Bernolef, der alte, steigt auf den Hünenstein;
• weiß weht sein Haar im Winde, voll Wonne schaut er drein.
• Die Harfe in den Händen, hoch hält er sie empor,
• singend nach alter Weise ein lautes Lied dem Thor.
• “Ich höre deinen Jammer, alter gewalt´ger Thor.
• machtvoll mit dem Mjölnir dringest du hervor.
• Wieder hast du verlassen Walhallas wonnigen Sitz;
• dumpf dröhnen lassest den Donner, blau leuchten du den Blitz;
• mit deinem Wolkenwagen durchrollst du die weite Welt,
• und was die Räder erreichen, zerrissen wird´s, zerschellt.
• Dir singen des Meeres Wogen; laut brausend ihr Lied erschallt;
• dir neiget sich und beuget sich vor Angst der wilde Wald.
• Und ich soll dir nicht bringen meinen Preisgesang?
• Und dir soll nicht erklingen meiner Harfe klang?
• Und ich soll dir nicht neigen anbetend mein altes Haupt,
• soll nicht mehr an dich glauben, an den ich so lang´ geglaubt?”
• Dir Harfe in den Händen, hoch hält er sie empor,
• und laut ertönt von der Lippe das lobende Lied dem Thor.
• Da- plötzlich niederwettert ein langer Strahl glührot- ,
• und die Harfe liegt zerschmettert, und Bernolef liegt tot.
• Hermann Allmers